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Taavi Kotka

Estland Digitalisierung "Wir können das Land immer rebooten"

1991 hatte noch nicht einmal die Hälfte aller Esten einen Telefonanschluss. Heute ist kaum ein Land so systematisch digitalisiert wie Estland. Taavi Kotka war bis 2017 der erste Chief Information Officer (CIO) der estnischen Regierung. Ein Interview über Estlands Fortschrittlichkeit dank Digitalisierung und Kotkas Überzeugung, dass Länder wie Deutschland und die USA dem Beispiel folgen müssen.

Taavi Kotka, herzlichen Glückwunsch zur Geburt Ihres vierten Kindes. Sie haben ein Bild aus dem Krankenhaus getwittert, auf dem das Armband Ihres Babys zu sehen ist, mit einem Barcode darauf. Was hat es damit auf sich?

Kotka: Wenn in Estland ein Baby zur Welt kommt, gibt ihm die Regierung zuerst einen Namen, bevor die Eltern zwei Wochen Zeit haben, um sich auf einen Vornamen zu einigen. Wenn ich sage, dass die Regierung einen Namen vergibt, dann meine ich damit, dass die Regierung dem Kind eine eindeutige Kennung zuweist, einen digitalen Namen, der auf dem Armband steht. Alle Daten, die ab jetzt erfasst und mit dem Kind verknüpft werden, seine Geburtsurkunde, seine Patientenakte und alles andere, sind an diese digitale Identität geknüpft.

Die eindeutige Kennung ist also der entscheidende Impuls?

Genau. In der digitalen Welt müssen Namen eindeutig sein. So wie Ihre Handynummer und Ihre E-Mail-Adresse. Wir haben vereinbart, dass jeder Este vom ersten Atemzug an eine eindeutige Kennung erhält. Deshalb habe ich ein Bild des Armbands getweetet, um der Welt zu zeigen, dass das etwas Wichtiges in unserer Gesellschaft ist. Die Kennung wurde sofort vom Einwohnermeldeamt vergeben, das unsere zentrale Registrierungsstelle ist. Alle anderen Behörden müssen sich darauf beziehen.

Im Videointerview: Taavi Kotka über die Vorteile digitaler Gesellschaften und die Digitalisierung.

Gibt es in Ihrer Gesellschaft denn keine Bedenken bezüglich einer solchen Datenerhebung?

Deutsche oder Briten verstehen unter Privatsphäre etwas anderes als nordische Gesellschaften in Skandinavien und Estland. Dabei wissen die Deutschen noch nicht einmal, wer alles ihre Patientenakte einsehen kann. Sie wissen es nicht, weil sie ihre Daten eben nicht selbst verwalten können. Wir in Estland meinen, dass die Verknüpfung von Daten nicht das Problem ist. Was zählt, ist die Kontrolle über unsere Daten.

Und die haben Sie?

Ja. Ich kann sehen, wer Zugriff auf meine Daten hatte. Solange es keine widersprechende Vorschrift gibt, kann ich meine Daten so schützen, dass kein anderer auf sie zugreifen kann. Und ich kann zum Beispiel das Umweltministerium fragen, welche Daten es über mich erhoben hat. Für uns ist die neue EU- Datenschutzgrundverordnung also bereits gelebte Praxis.

Wie definieren Sie in Estland eigentlich eine digitale Gesellschaft?

Wir meinen damit nicht die Umstellung von Papier auf Computer. Was wir meinen, ist eine Gesellschaft, in der Prozesse nahtlos ineinander übergehen und Dinge einfach passieren.

Können Sie uns bitte ein Beispiel nennen?

Mit der Geburt eines Kindes hat die Mutter Anrecht auf Kindergeld. In Estland funktioniert das so: Sobald die Krankenschwester das Baby im System eingibt, erzeugt das Krankenhaus einen Eintrag im Melderegister. Dort wird die eindeutige Kennung für das Kind angelegt, und zugleich erfolgt ein Eintrag im Familienministerium, sodass die Mutter Kindergeld erhält. Seien wir ehrlich: Die meisten wollen das Geld ohnehin – warum sollen sie es extra beantragen müssen? Um die Höhe des Kindergeldes zu berechnen, muss die zuständige Abteilung das Gehalt der Mutter und ihre gezahlten Steuern kennen. Das Finanzamt übermittelt diese Informationen automatisch. So bearbeiten die Rechner ihre Anfragen gegenseitig, ohne dass ein Mensch daran mitwirken muss. Der erste und wichtigste Schritt ist, dass jeder seine eindeutige Kennung bekommt. Sonst würde unser System nicht funktionieren.

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Unser digitaler Ansatz kommt zuallererst unserer Gesellschaft zugute.

Taavi Kotka, ehemaliger Chief Information Officer von Estland

Taavi Kotka

Und wie profitieren nun Estlands Verwaltung und Wirtschaft von der digitalen Gesellschaft?

Unser digitaler Ansatz kommt zuallererst unserer Gesellschaft zugute. Die Menschen haben die Kontrolle über ihre Daten. Wenn ich meine Daten löschen oder schützen möchte, kann ich das tun. Ein anderer Vorteil unserer digitalen Gesellschaft ist die Zeitersparnis. Wenn Sie in den meisten Ländern der Welt einen Vertrag unterschreiben, dann drucken Sie ihn aus, unterschreiben ihn, bezahlen den Versand, der Empfänger unterschreibt ihn und bezahlt ebenfalls den Versand, um ihn wieder zurückzuschicken. Also geben beide Seiten Geld aus, und das Ganze dauert mindestens einen Tag. Wie funktioniert das in Estland? Mit wenigen Klicks und einer digital signierten E-Mail, sowohl durch mich als auch durch meinen Vertragspartner. Zwei Minuten. Das war‘s. Und das alles lässt sich beliebig verbinden und kombinieren: Gesundheitsdaten, Finanzdaten bis hin zu Sozialdaten.

Sie haben also großes Vertrauen in ihr System?

Wenn Menschen es gewohnt sind, bestimmte Dinge zu benutzen, oder wenn sie verstehen, wie etwas funktioniert, dann wächst das Vertrauen. Natürlich kann unser System auch missbraucht werden. Etwa durch einen Arzt. Aber dann wissen wir, dass es dieser Arzt war, denn ich kann im System leicht erkennen, wer auf meine Daten zugegriffen hat. Er wird sofort entlassen, sobald er unbefugt Informationen abruft. Und wenn er Daten an Dritte weitergibt, wandert er ins Gefängnis.

Digitale Identität: Auf der estnischen Bürgerkarte steht auch die eindeutige Kennung.

Im Jahr 2017 beschloss das estnische Parlament, ein Back-up seiner wichtigsten Daten in eine „Datenbotschaft“ in Luxemburg auszulagern. Was war der Grund für diese Entscheidung?

Wenn sie ihre Gesellschaft vollständig digitalisieren, dann gibt es kein Papier mehr. Ich habe die Geburtsurkunde meines Kindes nicht auf Papier. Sie liegt auf dem Server des Einwohnermeldeamts. Digitaler Fortbestand wird somit für unseren Alltag wichtig. Wenn also etwas Schlimmes passiert, eine Naturkatastrophe oder ein Cyber-Krieg, dann haben wir jetzt ein Back-up. Wir können unser Land jederzeit aus der Cloud rebooten und bestimmte Dienste außerhalb Estlands betreiben. Wenn wir gehackt werden, schalten wir die Server hier ab und starten sie in Luxemburg. Es ist wie bei Familienfotos. Wollen Sie sie behalten, dann brauchen Sie Back-ups, und wir haben eben beschlossen, alle unsere Daten außerhalb unseres Landes aufzubewahren.

Im Oktober 2018 machte der estnische Premierminister Bill Gates zu einem virtuellen Bürger Estlands. Welche Vorteile genießt der Microsoft-Gründer dadurch?

Als wir vor ein paar Jahren die sogenannte E-Residency erfanden, war sie wegweisend. Es ist wie bei Musikstreaming-Diensten und der CD. Heute kauft niemand mehr CDs, die Leute nutzen Streaming-Plattformen wie Spotify. Das ist bequemer. Die Frage war: Sollten Regierungsdienstleistungen nicht auch so gesehen werden wie Spotify?

Also hat Estland seine Behörden virtuell für Menschen aus dem Ausland geöffnet?

Ja, wenn Sie Freiberufler sind und ein Unternehmen in einem anderen Land der Europäischen Union betreiben, bedeutet das oft hohe Kosten, viel Bürokratie, eine Menge Zeitaufwand und Ärger. Wenn Sie aber ein Unternehmen in Estland eröffnen wollen – in der gleichen EU, mit dem gleichen Bankwesen, dem gleichen Mastercard-System –, dann kostet Sie das 75 Euro, und Sie kommen ohne viel Bürokratie und Zettelwirtschaft aus. Zudem zahlen Sie Ihre Steuern in Ihrem Heimatland. Sie betrügen also Ihre Regierung nicht. Was wir mit der E-Residency beweisen wollen, ist, dass die Menschen zukünftig anfangen werden, Gesundheitsdienste, Bildung und Regierungsdienste als Dienstleistungen zu sehen. Und sie werden die nutzen, die effizienter sind. Mit unserer E-Residency sind Sie wie ein Este. Sie benutzen die gleichen digitalen Werkzeuge und Dienste wie ich.

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Wir werden gegenüber Asien ziemlich alt aussehen. Wir müssen eine neue Denkweise annehmen.

Das heißt, Sie generieren damit ein Geschäft für Estland?

Geschäftspartner eines Landes sind immer diejenigen Menschen und Unternehmen, die mit der Wirtschaft verbunden sind. Durch das E-Residency-Programm sollen mehr Menschen auf der Welt Wirtschaftsbeziehungen mit uns eingehen, denn wenn diese Menschen hier ein Unternehmen betreiben, benötigen sie ein Bankkonto. Vermutlich werden sie hier eines eröffnen. Und wenn unsere Banken mehr Kunden haben, werden sie mehr Steuern zahlen.

Klingt nach einem Standortvorteil.

Heute konkurrieren die Länder darum, die besten Leute für ihre Universitäten oder Unternehmen zu gewinnen. In Zukunft heißt es: Wie kann ich mehr Kunden virtuell anbinden? Es ist wie mit Spotify und dem veralteten CD-Laden. Das wird der zukünftige Wettbewerb sein, und wir zeigen lediglich, wie das geht.

Digitaler Überflieger: Hat Estland von bürokratischen Fesseln befreit.

Die E-Residency zeigt, dass Estland aus eingefahrenen Denkmustern ausbricht. Ist es ein Merkmal der digitalisierten Welt, Herausforderungen neu zu denken, weil so viel mehr möglich ist, und was heißt das letztlich für Unternehmer?

In jedem Jahrzehnt haben wir irgendetwas Neues, das die Welt verändert, richtig? Es geht immer darum, wie schnell man es annimmt. US-Unternehmen haben die Vorteile des Internets viel schneller genutzt. Wir haben kein europäisches Google, Facebook oder Amazon. Warum? Weil wir zu spät waren. Das Gleiche wird wieder geschehen, wenn wir jetzt die Digitalisierung und die digitale Gesellschaft verschlafen. Die gute Nachricht ist, dass wir Europäer diesmal immerhin nicht gegen die USA verlieren werden. Sie hinken in dieser Beziehung genauso hinterher wie wir. Aber wir werden gegenüber Asien ziemlich alt aussehen. Wir müssen also eine neue Denkweise annehmen.

Mit anderen Worten, die westlichen Gesellschaften müssen aufwachen.

China und die nordischen Länder verknüpfen Daten, weil sie glauben, dass sie benötigt werden, um bessere und schnellere Dienstleistungen zu ermöglichen – und bessere Entscheidungen. Und es gibt Länder wie Deutschland, die USA und Großbritannien, in denen die Regierungen hinterherhängen. Es geht nicht nur um bequeme Dienstleistungen oder die Automatisierung von Diensten. Es ist auch wichtig, welche Art von Fragen sie für eine bessere Zukunft beantworten können. Bin ich in der Lage, bestimmte Elemente und Datenbanken zu verbinden, um die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen?

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Taavi Kotka

Jahrgang 1979, begann seine Karriere als Programmierer, bevor er zum CEO eines großen Software-Entwicklungs unternehmens (heute Nortal) aufstieg. Im Jahr 2013 wurde er Estlands erster Chief Information Officer (CIO). Bis 2017 leitete er die Entwicklung des Landes als fortschrittliche digitale Nation. Während seiner Amtszeit wurden das E-Residency-Programm und die Datenbotschaft eingeführt. Kotka wurde 2014 zum European CIO of the Year ernannt. Er war auch Sonderberater des Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Andrus Ansip, zum Thema europäischer digitaler Binnenmarkt. Heute ist er für ProudEngineers.com wieder in der Privatwirtschaft tätig.

Und Asien gibt die Richtung vor?

Meine Sorge ist, wenn China den kommenden Generationen in Europa sagen würde, eröffnet eure Unternehmen auf dem chinesischen Markt. Ihr habt vollen Zugang zum Bezahlsystem Alipay und anderen Finanzinstrumenten. Ihr habt eine Volkswirtschaft von 1,3 Milliarden Menschen. Ihr müsst nur zugreifen. Dann könnte es wie mit der CD und Spotify enden. Früher hast du die CDs im lokalen Laden gekauft. Jetzt ist er nicht mehr da, er ist pleite, weil du dein Geld für Spotify ausgibst. Oder was, wenn das chinesische Gesundheitssystem in der Lage wäre, jedem Chinesen 20 Jahre mehr lebenswertes Leben zu ermöglichen? Vielleicht würden ältere Europäer auf die Idee kommen, das chinesische Gesundheitssystem zu nutzen und ihm ihre Daten, Proben und Genome zu geben. Das könnte enorme Auswirkungen auf unsere europäischen Gesundheitssysteme haben. In Zukunft wird alles zur Dienstleistung, und die Digitalisierung ist der Türöffner.

Sie sagten einmal, für große Nationen wie Großbritannien sei der Leidensdruck, sich konsequent zu digitalisieren, nicht hoch genug. Warum nicht?

Das Problem sind Unsicherheit und Angst. Es ist leicht zu sagen: „Oh, du weißt, dass es Cyberkriminalität gibt.“ Und: „Oh, Datenschutzbedenken.“ Ja, sie haben recht. Aber sie können digital sein und ihre Privatsphäre schützen. Wir zeigen, dass Estland besser geschützt ist als etwa Großbritannien, obwohl wir stärker digitalisiert sind. Ich denke, die wirkliche Angst besteht darin, dass die Menschen, die das Denken der Gesellschaft beeinflussen, insbesondere die Bürokraten, Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Das ist der eigentliche Hauptgrund.

Vielen Dank für das sehr aufschlussreiche Gespräch.

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